Kopplung menschlich-individueller Systeme und menschlich-kollektiver Kommunikationssysteme

Der Zusammenhang fasziniert mich schon sehr lange, bereits bevor ich Mitte 2024 auf Formwelt gestoßen bin. In der Formwelt kann ich erkennen, dass dieses Thema mitläuft. In dem bisherigen überschaubaren Ausschnitt an dem ich teilgenommen habe (Seminare und Buch) jedoch eher implizit. Eine explizite Argumentation oder Auseinandersetzung dazu habe ich bislang nicht gefunden. Deswegen hier mein erster Versuch, meine Gedanken dazu ein wenig zu sortieren und zum Pogo bereit zu stellen. Mit dem Disclaimer, dass ich als FORMwelt-Anfängerin gerade erst damit beginne, meine semiotische Sphäre klar zu referenzieren. Dies hier ist also mein erster Wurf, gedachtes Denken in Schreibdenken zu überführen und meinen Zeichenraum neu/ggf. anders zu klären als bisher. Ich bin da in Verständnis und Suchbewegungen und versuche, Verknüpfungen zwischen verschiedenen Wissensgebieten und Einsichten herzustellen, in den ich beruflich oder aus Interesse auch privat unterwegs bin.

Folgende Fragen und Bitten an alle, die Bock drauf haben: was übersehe ich oder in anderen Worten: wo hat Dunning-Kruger zugeschlagen? Was ist schlüssig, was nicht? Wo kann man weiterdenken (hab dazu noch einiges in Petto, was diesen Text zu sehr aufgebläht hätte und was ich deswegen weggelassen hab)? Ist mein Schreibdenken so für euch nachvollziehbar, dass ihr mitbauen könnt, was ich meine und worum es mir geht? Let’s dance, let‘s Pogo, freu mich drauf! (Auch wenn ich Respekt hab – vor euch natürlich, aber auch vor den möglichen blauen Flecken, die jetzt kommen können).

Ich nähere mich mal von 2 Seiten. Erstens: aus Sicht des menschlich-individuellen Systems. Zweitens: aus Sicht des Kommunikationssystems, dass aus menschlicher Kollektivität heraus emergiert. Dann versuche ich beides als drittens zusammen zu bringen.

Erstens: Fragen und Gedanken zu menschlich-individuellen Systemen

In der Systemtheorie, auch in der kybernetischen Darstellung von Formwelt, finde ich Menschen als Psychen beschrieben. Formwelt vergisst anders als Luhmann und Co den Körper nicht, sieht ihn aber als eigenes, an die Psyche gekoppeltes System. So weit richtig?

Vorweg: dass mit dieser systemtheoretischen Unterschiedsbildung zwischen psychischem System und physiologischem System viel gewonnen ist, das leuchtet mir ein. Beispielsweise verändert es mechanistische Sichtweisen, die sehr verkürzt und überspitzt darauf hinauslaufen, dass man nur mittels eines Eingriffs (chirurgisch oder per Medikament) quasi Knöpfe drückt und dann auch Leid, u.a. psychisches Leid wie Depressionen schon in den Griff bekommt.

Diese Unterschiedsbildung „psychisches System“ – „physiologisches System“ hat allerdings auch einen Preis, der auch bei Konzeptualisierung fester Kopplung erhalten bleibt. Der Preis liegt m.E. darin, dass direkte Relationierung zwischen physiologischen und psychologischen Systemelementen nicht mehr möglich ist. In dieser Unterschiedsbildung Psyche/Physis wird der Körper, wiederum etwas überspitzt gesagt, degradiert zum Transportmittel für den Kopf. Bzw. die dem Körper eigene innewohnende Intelligenz wird nicht mehr direkt relationiert mit sprachlichen/Bewusstseinsprozessen. Oder übersehe ich da was bzw. verstehe ich da etwas falsch?

Wofür ist das nun relevant? Zunächst folge ich den Formwelt-Aussagen bzw. dem konstruktivistischen Prinzip, dass wir uns mittels unserer Zeichen, unserer Sprache die Wirklichkeit konstruieren und dass Bewusstseinsentwicklung genau dieser Sprachentwicklung folgt. Ich hab Maturana zwar noch nicht gelesen (kommt noch :blush:), habe aber Gittas Argumentationskette mittlerweile oft genug gehört, um folgen zu können. Konsequenz: niemand kann in die Psyche anderer Gedanken machen. Bin dabei. Allerdings: Unsere Gedanken, aka unsere Zeichen/Sprache und darauf aufbauende Bewusstseinsentwicklung aka unsere Wirklichkeitskonstruktion wird direkt beeinflusst von unseren physiologischen Prozessen. Emotionen sind dabei, soweit ich das bisher sehr unvollständige Wissenschaftsverständnis von Emotionen glaube verstanden zu haben, eine Art Bindeglied zwischen mentalen und physiologischen Prozessen. Beispielemotion „Wut“, die mit dieser Bezeichnung ja bereits in Sprache gefasst ist. Sie geht u.a. einher mit schnellerem Herzschlag, höherer Atemfrequenz, angespannten Muskeln, heruntergefahrener Verdauungsfunktion und vielem mehr. Denn ein Sinn von Wut besteht evolutionär ja darin, handlungsbereit zu sein: für Essen finden, kämpfen, die Kinder beschützen, weglaufen, … you name it. All das wird durch unser Nervensystem gesteuert, dass in einem ganz eigenen Rhythmus aus Anspannen und Entspannen durch den Tag geht. Der manchmal gehörig aus dem Gleichgewicht geraten kann. Wut ist in diesem Blick Teil der Anspannungsreaktion des autonomen Nervensystems, in diesem Fall des Sympathicus. Auch hormonelle Prozesse hängen damit zusammen. Wenn die Anspannung über ein gewisses Niveau hinaus geht (über das Window of Tolerance hinaus), dann werden sogar in bestimmten Hirnbereichen Teile abgeschaltet (im Neocortex, Teile die mit Rationalität, Sprachverarbeitung etc. zu tun haben). Das ist eine sinnvolle Energieeinsparmaßnahme des Organismus genau wie das Herunterfahren der Verdauung. In diesem physiologischen Zustand nun sind die Zeichen und deren Bedeutung eine andere als in anderen physiologischen Zuständen. Die Polyvagal-Theorie hat hierzu interessante Hypothesen aufgestellt, die etliche alltägliche Erfahrungen und auch solche aus Coaching, Beratung und Therapie in sinnvoller Form erklären. Und dies ist der Hintergrund warum ich mich der Unterschiedsbildung „Psyche“ und festgekoppelte „Physis“ in menschlich-individuellen System so schwertue. Und stattdessen mehr damit anfangen kann, menschliche Individuen als biopsychosoziale Systeme zu verstehen. Den Teil „biopsycho“ hab ich hiermit versucht, zu skizzieren. Den Teil „sozial“ nehm ich mir jetzt vor.

Zweitens: Fragen und Gedanken zu menschlich-kollektiven Kommunikationssystemen

Hier kommen wir zum Realkonstruktivismus der Formwelt. Zunächst, was ich verstanden habe und was mir ungemein hilfreich ist im beruflichen und persönlichen Alltag: Ein Kommunikationssystem ist in meinen Worten quasi eine Art „eigenes, immaterielles Wesen“. Jedenfalls ein lebendiges, autopoetisches System, das sich selbst erhält und organisiert. Um Muster zu bilden und sich zu rhythmisieren (was Leben tut, Leben ist Rhythmus), nutzen Kommunikationssysteme Meinen, Mitteilen und Verstehen, dass sie aus ihrer Umwelt, nämlich den individuellen menschlichen Systemen gewinnen. Eine Metapher dafür ist vielleicht, dass sich das (irgendwie auch individuelle) Kommunikationssystem quasi davon „ernährt“, dass menschliche Individuen Meinen, Mitteilen und Verstehen zur Verfügung stellen. Und das Kommunikationssystem daraus eigene „Bausteine“, nämlich die formwelt’schen Konstruktions- und Kombinationsformen zusammenbaut und sich darin rhythmisiert und Muster ausbildet. So wie menschliche Individuen sich davon ernähren, Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße etc. zu sich zu nehmen und diese in körpereigene Stoffe verstoffwechseln und den Rest wieder ausscheiden.

Bei der Metapher des Ernährens, oder systemtheoretisch gesprochen des Koppelns kommt nur das „sozial“ aus „biopsychosozial“ ins Spiel. Denn das Ernähren ist bidirektional. Vielleicht passt dann eher die Metapher des Austauschs zwischen tierischen/menschlichen und pflanzlichen Lebewesen: des einen Ausscheidung (Sauerstoff bzw. Kohlendioxid) ist des anderen überlebenswichtiger „Baustoff“.

Um im obigen Beispiel der Emotion „Wut“ zu bleiben und nochmal auf das menschlich-individuelle System zurückzukommen: wie entsteht denn im gegebenen Moment die Wut? Ist das ein Trigger innerhalb der lebenslang aufgebauten Rhytmisierungen und Muster unserer Wirklichkeitskonstruktion oder ein tatsächlicher externer Auslöser, auf den es (überlebens-) wichtig ist zu reagieren? Kommt der Trigger aus dem Kommunikationssystem, weil ein Meinen einen Bedrohungslage signalisiert und ein Verstehen diese aufgreift? Wo und wie aufgreift? Im Kommunikationssystem? Im individuell-menschlichen System? Wo und wie? Über die physiologische Wahrnehmung (=Neurozeption des autonomen Nervensystems noch vor der sprachlichen/bewussten Wahrnehmung)?

Drittens: beides zusammenbringen :smiley:

Wenn ich beides nun zusammenbringe: dann können Menschen anderen Menschen zwar keine Gedanken einpflanzen, definitiv nicht. Aber über den indirekten Weg der Beeinflussung des physiologischen Zustands (d.h. über Resonanz) sehr wohl. Das geht dann nicht nur im 1:1 Kontakt. Sondern die gleiche Frage stellt sich auch mit Blick auf die Kopplung Individuen <> Kommunikationssystem. Das Kommunikationssystem selbst wählt die Konstruktionsformen und Kombinationsformen aus Meinen, Mitteilen und Verstehen aus. Und gleichzeitig beeinflussen Individuen diese Auswahl irgendwie, sonst würden die Formlines keinen Sinn ergeben und nicht funktionieren. Ich meine, das passiert ganz stark über Verkörperung von Sicherheit, Pogofähigkeit etc. von Individuen im System. Eben nicht von individuellen Psychen. Sondern von biopsychosozialen Individuen, die über vielfältige physiologische, mentale, emotionale und kommunikative Elemente mit den Kommunikationssystemen gekoppelt sind.

@Anna was meinst du?
@gitta.peyn: ist es möglich, dass du hierzu auch etwas sagst? Falls ja: bedankt!

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Liebe Susanne, Dankeschön für Deinen Beitrag. Ich bin gespannt, wie die Meinungen hierzu ausfallen und bestimmt können Deine Fragen beantwortet werden. Vllt. u.a. im Stammtisch?
Herzliche Grüße Haggi

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Sehr gerne, Haggi. Wann und wie und wo habt ihr den Stammtisch vor bzw. wo finde ich das? Kann ich was unterstützen? Herzliche Grüße Susanne

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Liebe Susanne, den genauen Termin mit Infos für den Stammtisch, im 1. Quartal des Jahres 2025, gebe ich nächste Woche hier und bei LinkedIn bekannt.
:wink:

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Liebe Susanne, erstmal nur kurz: danke für’s Taggen – ich habe deine interessanten Gedanken gerade gelesen und antworte gerne bald ausführlich darauf. Brauche noch etwas, starte erst gerade langsam wieder aus dem Winterschlaf ;).

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Liebe Susanne,

endlich komme ich dazu, dir zu antworten.

Mensch und Körper bei Luhmann

Zur Begriffsklärung des Menschen von Luhmann kenne ich kaum etwas. Es scheint mir, je nach Kontext und Bedarf benutzt, fast eine Art Platzhalter zu sein. Mit Psyche gleichgesetzt, kenne ich ihn nicht, auch bei Formwelt nicht.

Ich schätze es eher so ein, dass Luhmann den Körper aufgrund der soziologischen Perspektive nicht in den Fokus nimmt, dennoch aber, z. B. als Voraussetzung, mitberücksichtigt. Demzufolge sind es mMn eher die Anhänger Luhmanns, die alles so völlig entkörpert haben, als er selbst.

Degradierung von Körper durch Differenzierung

Was verstehst du genau unter Körperintelligenz?

Durch Annahme struktureller Kopplung und zwingender Existenz von Körper für Psyche sehe ich hier keine Degradierung. Nähme man die strukturelle Kopplung weg und verneinte, dass sowohl Körper für Psyche als auch Psyche für Körper relevanter Einfluss sind, wäre das für mich eine Degradierung.

Verständnis von Emotionen

Vorab: Vor dem Hintergrund der Polyvagaltheorie kann nachvollziehen, was du hier zu Wut und Nervensystem schreibst. Ich bin mittlerweile allerdings von Porges inkl. seiner Theorie abgerückt. Für mich treten an zu vielen Stellen Unklarheiten und Widersprüche auf. Daher beziehe ich mich im folgenden nicht auf ihn.

Ich möchte ganz kurz ausführen, was für mich aktuell das schlüssigste Emotionsverständnis ist:
Lisa Feldman Barrett schlägt eine Theorie konstruierter Emotionen vor. Demnach erklären Emotionen

  • interozeptive Veränderung sowie affektives Erleben
  • vor dem Hintergrund der aktuellen Situation und erstellen daraus ein
  • Rezept für weiteres Handeln.

Damit wird der „energetische Haushalt“ (z. B. Blutzucker, Hormone) des Körper reguliert und Überleben gesichert.

Dafür verwendet sie predictive processing als Erkärung für die Funktionsweise des Gehirns: Das Gehirn sagt kontinuierlich sensorische Ereignisse vorher. Abweichungen der Vorhersagen nutzt es dann zum Aktualisieren des Modells der Welt. Es wird so kontinuierlich ad hoc die Wirklichkeit konstruiert und der Körper verliert dabei seine entscheidende Rolle nicht.

Kommunikationsystem / Mensch

Ich würde sagen, Psychen stellen Meinen und Verstehen zur Verfügung – Körper (und anderes Physische (der Fels der vom Himmel fällt)) Mitteilen. Durch strukturelle Kopplung können sich psychisches, soziales und körperliche Systeme aufeinander beziehen.

Nimmt man System als die Menge von Relationen zwischen Elementen, kann man Menschen dann gut als biophysiosoziales System fassen, finde ich.

Trigger für Wut

Gehe ich davon aus, dass Wut als Emotion konstruiert ist, würde ich sagen:

  1. Es ist das aktuell beste Rezept für die vorliegende innere und äußere Situation, das mein Nervensystem kennt, um die energetischen Kapazitäten meines gesamten Körpers bestmöglich zu bewahren oder zu erhöhen.
  2. Die Emotion (als aktuelle Vorhersage) entsteht aus Rhytmisierung und Mustern (in Kombination mit aktuellen körperlichen, psychischen und sozialen Geschehnissen).
  3. Der Trigger kann dann auch aus dem Kommunikationssystem kommen – ich denke, z. B. je nachdem welches Erleben bei der Beobachtung (?) des sozialen Systems konstruiert bzw. vorausgesagt wird. → Das habe ich noch nicht so richtig scharf.

Kopplung mit sozialem System

Ja, verstehe ich auch so; mit den FORMWELT-Erkenntnissen lässt sich der Einfluss bzw. die Wirkung berechnen – sofern ein System sich nicht aus unvorhergesehenen Gründen verändert.

Soviel erstmal zu meinen Gedanken. Ist das brauchbar für dich? Was denkst du dazu?

Liebe Grüße,
Anna

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@SuWe schau